An den Mond
aus: Bonaventura „Nachtwachen“
Vierzehnte Nachtwache, Seite 114-115
Reclam – 2005
Sanftes Anlitz voll Gutmütigkeit und Rührung; denn beides mußt du in dir vereinen, weil du nicht einmal am Himmel den Mund aufreißest, weder zum Fluchen noch zum Gähnen, wenn tausend Narren und Verliebte ihre Seufzer und Wünsche zu dir hinaufrichten, und dich zu ihrem Vertrauten erkiesen; so lange du auch schon um die Erde herumgelaufen bist, als ihr Begleiter und Cicisbeo, so hast du dich doch beständig als ein treuer Konfident gehalten, und man findet kein einziges Beispiel in der Weltgeschichte bis zu Adam hin, wo du unwillig geworden wärest, die Nase gerümpft, oder einige hämische Mienen angenommen hättest, ob du gleich diese Seufzer und Klagen schon tausend und abertausende Male wiederholen hörtest. Noch immer bist du gleich aufmerksam; ja man sieht dich so oft gerührt das Wischtüchlein einer Wolke vorhalten, um deine Tränen dahinter zu verbergen. Welchen besseren Zuhörer könnte sich ein seine Werke vorlesender Dichter wählen, als dich, welchen innigern Vertrauten ich, der ich hier im Tollhause mich liebend verzehre. Wie blass bist du, Guter, wie teilnehmend, und zugleich wie aufmerksam auf alle, die noch in diesem Augenblicke außer mir stehen, und dich anschauen! Deine gutmütige Miene könnte man leicht für Einfalt halten, besonders heute, wo dein Anlitz zugenommen hat und recht rund und genährt anzuschauen ist; aber du magst zunehmen, wie du willst, ich lasse mich dadurch in deinem Anteile nicht täuschen, bleibst du doch immer der Alte, und nimmst auch wieder ab, und verzehrst dich – ja verhüllst du nicht gar, wenn dich die Rührung überwältigt, dein gesicht wie der weinende Agamemnon, dass man nichts von dir sieht, als den vor Gram kahlen Hinterkopf! – Leb wohl, Trauter, Guter!