Jan Wagner – achtzehn pasteten – 9(empanada)

aus: „Geh aus, mein Herz“ Gedichte über Fernweh und Reiselust
Diogenes Verlag, 2019, Seite 33

Jan Wagner
achtzehn pasteten
9 (empanada)

es war nicht afrika, es war ein fels
im wasser, wie sie sagte. allenfalls.
im rückspiegel weiße dörfer, träge
wie gletscher – und der himmel leicht, als trage
er sich von ganz allein. im rückspiegel die sierra
mit ihren gipfeln, eine sure
von korkeichen darunter. wie ihr haar
im fahrtwind tobte. und voraus das meer,
der strand, den es bejaht, verneint.
es war kein fels, es war ein kontinent.

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jbs 2tausend19

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jbs 2tausend19

Nachtstunde

Die Nachtstunde schlug; ich hüllte mich in meine abenteuerliche Vermummung, nahm die Pike und das Horn zur Hand, ging in die Finsternis hinaus und rief die Stunde ab, nachdem ich mich durch ein Kreuz gegen die bösen Geister geschützt hatte.

Es war eine von jenen unheimlichen Nächten, wo Licht und Finsternis schnell und seltsam miteinander abwechselten. Am Himmel flogen die Wolken, vom Winde getrieben, wie wunderliche Riesenbilder vorüber, und der Mond erschien und verschwand im raschen Wechsel. Unten in den Straßen herrschte Totenstille, nur hoch oben in der Luft hauste der Sturm, wie ein unsichtbarer Geist.
aus: Bonaventura; Erste Nachtwache
 
Die Laterne ist in Tübingen aufgenommen. Gegenlichtaufnahme an der Neckarbrücke. jbs 2019

Erich Fried – Meer

Meer

Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren

und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes
einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen

Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nicht mehr wollen wollen
nur Meer

Erich Fried 1921 – 1988